Spracherwerbsstörungen bei Kindern

Holzturmbau. Foto: Mary Cronos

„Paul ist 4 Jahre alt und ein aufgeweckter Junge, doch kann man seine Sprache noch nicht gut verstehen. Selten verwendet er ganze Sätze und verdreht zudem die Reihenfolge der Wörter und mancher Buchstaben“

Wenn ein Kind sprechen lernt, ist es völlig normal, dass das Kind nicht sofort alle Wort- und Satzkonstruktionen richtig bilden kann. Mit vier bis fünf Jahren sollte es jedoch die meisten grammatischen Strukturen korrekt bilden können. Auch eine Einschränkung des Wortschatzes bzw. des Sprachverständnisses können ein Hinweis auf eine Sprachentwicklungsverzögerung sein.

Sprachentwicklungsverzögerung

Häufig zeigen sich die Auffälligkeiten bei der Grammatik und in einem sehr kleinen Wortschatz des Kindes.

Beispielsweise werden Vorsilben weggelassen („Ich habe lacht“), Verben nicht in ihrer korrekten Form gebraucht („Ich machen“), oder ganze Wörter ausgelassen bzw. die Wortreihenfolge in Sätzen umgestellt („Mama Haare hat – lang“).

Die Einschränkung des Wortschatzumfanges ist beispielsweise daran erkennbar, dass ein Kind zur Kommunikation notwendige Wörter wie Nomen (z.B. Hund, Auto), Verben (z. B. laufen, essen) oder Adjektive/Adverbien (z.B. schön, groß) nicht kennt und es häufig auf allgemeine Wörter wie „Dings“, „machen“ oder „so“ bzw. auf Gesten zurückgreift. Oft haben die Kinder auch Probleme, Wörter in einen Bedeutungszusammenhang zu stellen (z.B. Hund und Katze dem Begriff „Tier“ zuzuordnen oder Augen, Mund und Nase dem Begriff „Gesicht“).

Da eine Sprachentwicklungsverzögerung häufig ein erhöhtes Risiko für spätere Lernschwierigkeiten oder für eine Lese-Rechtschreibschwäche sein kann, ist es sehr wichtig, möglichst früh mit einer logopädischen Therapie zu beginnen.

Late Talker

„Anton ist zwei Jahre alt und spricht nur sehr wenige Wörter: Mama, Papa und Toto, das heißt „Auto“

Als „Late Talker“ werden Kinder mit einem verspäteten Sprechbeginn bezeichnet. Von einem verspäteten Sprechbeginn spricht man, wenn Kinder mit 24 Monaten weniger als 50 Wörter sprechen und keine Zweiwortsätze bilden können. Late Talker entwickeln sich in den anderen Entwicklungsbereichen jedoch wie ihre gleichaltrigen Freunde. In der Regel kommt es nach ca.50 gelernten Wörtern zu einer sogenannten „Wortschatzexplosion“.Innerhalb kürzester Zeit lernen die Kinder dann mehrere hundert Wörter dazu. Die Vielzahl der Wörter ermöglicht es den Kindern durch die Bildung von Zwei- und Mehrwortsätzen grammatische Strukturen zu entwickeln und das Regelwerk der deutschen Sprache zu erfasssen. Kinder, die das 50-Wort-Kriterium nicht erreichen werden als Late Talker bezeichnet. Man geht davon aus, dass ca. 13-20% aller Zweijährigen sogenannte „Late Talker“ sind. Diese Kinder haben ein erhöhtes Risiko für eine sich entwickelnde Spracherwerbsstörung. Etwa die Hälfte aller „Late Talker“ kann ihren Rückstand im Spracherwerb jedoch bis zum dritten Geburtstag aufholen.

Eine Früherkennung von „Late-Talker-Kindern“ bedeutet also, dass ein Entwicklungsrisiko erkannt wird, ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits feststeht, ob sich wirklich eine Störung ausbilden wird. Die frühzeitige Risikoerkennung ermöglicht eine Förderung der betroffenen Kinder in einer Lebensphase mit dem größten Entwicklungspotential noch bevor sich eine Störung ausbildet.

Entgegen einer jahrzehntelangen Haltung des „Abwartens“ wird heute eine möglichst frühe Intervention empfohlen.

Zweisprachigkeit/Bilingualität

„Franz spricht nur wenig und vermischt ständig beide Sprachen, die wir unserem Kind anbieten. Außerdem hört sich sein sprechen an, wie das eines Ausländers. Wir sind besorgt und können uns sein sprechen nicht erklären“

Eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) bei Mehrsprachigkeit wirkt sich immer auf alle Sprachen aus, die das Kind in der frühen Kindheit erlernt. Bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern muss man überprüfen, ob das möglicherweise zu wenig Möglichkeiten hat eine Sprache zu erlernen. Erhöht man in diesem Fall vor allem das Sprachangebot zum Beispiel durch den Besuch des Kindergartens, treten häufig erhebliche Sprachfortschritte ein. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet die Sprachförderung im Kindergarten. Liegt jedoch eine SSES, die sich in allen Sprachen zeigt, die das Kind gleichzeitig erwirbt, sollte die logopädische Therapie so früh wie möglich beginnen. Ein verspäteter Sprachbeginn (ab 24 Monaten) in der/den Erstsprache/n und ein langsames Entwicklungstempo in allen Sprachen können bereits auf eine derartige Sprachstörung hinweisen.

Phonetisch-phonologische Störung

„Jonas kennt mit seinen 4 Jahren schon viele Wörter und hat eine lustige Sprache, die man oft aber nur schwer verstehen kann. Einen „großen Schrank“ nennt er „ein gloha hant“, eine „Straße“ heißt bei ihm „Ratse“ und sein Lieblingsessen „Hackbraten“ nennt er „Satbaken“.

Eine „phonologische Störung“ liegt vor, wenn ein Kind die Sprachlaute nicht richtig erlernt. Häufig ist zu beobachten, dass bestimmte Laute durch andere ersetzt oder ganz ausgelassen werden (z.B. das Wort „Kopf“ wird „Topf“ gesprochen). Dies kann verschiedene Ursachen haben. Es kommt auch vor, dass Kinder die Laute zwar richtig bilden können, aber in Wörtern nicht richtig einsetzen oder weglassen.

So kann ein Kind vielleicht die Laute „b“ und „r“ in verschiedenen Worten korrekt benutzen, lässt aber in der Mitlautverbindung bei „Brot“ den ersten oder zweiten Laut aus, sodass „Bot“ oder „Rot“ anstelle „Brot“ entstehen.

Manchmal ist das Kind aber auch einfach nicht in der Lage das Zusammenspiel der Muskeln, das für jeden einzelnen Laut funktionieren muss, zu „organisieren“ und kann deshalb diesen Laut auch nicht als Einzellaut bilden. Es ersetzt diesen Laut deshalb häufig durch einen anderen Laut, den es bereits bilden kann. Spielerisch lernt das Kind in einer Therapie, wie es den fehlenden Laut bilden muss und an welcher Stelle im Wort er steht. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die falsche Aussprache der S-Laute, also das Lispeln.

Hörstörung

„ Lilly reagiert nur, wenn sie will“. Wenn sie in ein Spiel vertieft ist, haben wir oft das Gefühl, dass sie uns gar nicht hört. Bei lauten Geräuschen hält sie sich allerdings oft die Ohren zu“

Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit wird durch eine Erkrankung des äußeren und/oder des Mittel- und/oder des Innenohrs verursacht. Mögliche Ursachen hierfür können u.a. häufige Mittelohrenentzündungen mit Paukenergüssen, Risse oder Vernarbungen im Trommelfell oder angeborene Innenohrschwerhörigkeit sein. Je nach Schweregrad der Störung kann die Hörfähigkeit durch Operationen oder durch Hörgeräte so ausgeglichen werden, sodass wieder eine möglichst normale Hörwahrnehmung zustande kommt. Oft ist Logopädie zur Korrektur der Artikulation und Aussprache, sowie zur Verbesserung der Hörverarbeitung notwendig.

Zentrale Hörstörung

Als zentrale Hörstörung bezeichnet man eine verminderte Hörwahrnehmung (-Verarbeitung) bei einem normal funktionierenden Hörorgan; Es liegt keine Schädigung des Ohres oder der Hörfähigkeit vor. Menschen mit dieser Störung haben Schwierigkeiten beim Zuhören, beim Verstehen und Verarbeiten von Sprachinformationen. Anzeichen für eine zentrale Hörstörung können beispielsweise Überempfindlichkeit für Geräusche, eine verzögerte Sprachentwicklung mit undeutlicher Aussprache, Unsicherheiten beim Richtungshören, Defizite im Sprachverständnis und in der Merkfähigkeit, leichte Ablenkbarkeit sowie später Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten, oder Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sein.

Lese-Rechtschreibstörung (LRS)

„ Yael ist eigentlich eine gute Schülerin. Und obwohl sie sich beim Schreiben- und Lesenlernen anstrengt und immer ihre Hausaufgaben macht, kann sie nur sehr mühsam lesen und sich einfach nicht merken wie man die Wörter schreibt. Sie macht immer so viele Fehler. Ihre Lehrerin sagt, Yael müsse nur mehr üben, aber wir haben das Gefühl, dass ihr das nicht hilft.“

Von einer LRS spricht man dann, wenn ein Kind erhebliche und andauernde Schwierigkeiten beim Erlernen von Lesen und Schreiben hat. Die betroffenen Kinder haben Probleme mit der Umsetzung der gesprochenen zur geschriebenen Sprache und umgekehrt.  Es gibt keine „typische“ Fehlerart, die nur LRS-Kinder machen. Meist sind es die gleichen Fehler, die alle Kinder machen, nur dass sie sehr viel häufiger und länger anhaltend sind und meist nicht selbständig überwunden werden können. Oft zeigen sich Schreibfehler in der Art, dass die Kinder ausdauernd so schreiben, wie sie etwas hören:  z.B. „schden“ statt „stehen“ oder „Fata“ statt „Vater“. Außerdem werden häufig ähnlich aussehende Buchstaben wie „b“, „d“ und „p“ und die Reihenfolge der Buchstaben im Wort verwechselt.

Bei einer Leseschwäche lassen die Kinder  Wörter oder Wortteile aus, verdrehen diese oder fügen neue Wörter oder Wortteile hinzu. Viele Kinder lesen sehr langsam, verlieren die Zeile im Text, vertauschen Wörtern oder Buchstaben. Auch zeigen sie häufig Schwierigkeiten bei den Doppellauten und können Gelesenes nicht wiedergeben bzw. Schlüsse ziehen, Zusammenhänge erkennen oder Fragen zum Text beantworten.

Mutismus

Henrik spricht bei uns zu Hause wie ein Buch, im Kindergarten oder anderswo spricht er aber kein Wort. Ganz selten spricht er mit einer Erzieherin, aber dann flüstert er nur.“

Der (selektive) Mutismus tritt vorwiegend im Kindes- und Jugendalter auf. Er ist dadurch erkennbar, dass die betroffenen Kinder gegenüber einem bestimmten Personenkreis scheinbar unfähig sind zu kommunizieren bzw. zu sprechen. Und dies geschieht, obwohl die Hör- und Sprechfähigkeit in der Regel ausreichend entwickelt ist. In vertrauten Situationen, z.B. innerhalb der Familie, sprechen diese Kinder meist verhältnismäßig viel. Dieses Verhalten kann sich jedoch schlagartig beim Erscheinen einer fremden Person verändern und die Kinder „verstummen“. Eine direkte Ursache ist nicht bekannt. Sowohl psychologische als auch physiologische Faktoren (z.B. familiäre Veranlagung, Entwicklungsstörungen) oder eine Kombination aus beidem können hierbei eine Rolle spielen. In den meisten Fällen besteht jedoch eine Veranlagung zur Ängstlichkeit und Gehemmtheit. Die Diagnose „selektiver Mutismus“ wird normalerweise vom Kinderarzt oder Kinderpsychologen gestellt. Durchschnittlich sind mehr Mädchen als Jungen betroffen. Es bestehen verschiedene Therapiemöglichkeiten (u.a. Sprachtherapie, Familientherapie, Verhaltenstherapie), die individuell abgewogen werden sollten.